Fr, 15. Mai 2015

"Wild Card im Europacup"

Die Kolumne von Sascha Theisen zum Spiel gegen Verl

Ab der fünften Klasse war ich Schlüsselkind. Das bedeutete: Immer, wenn die Schule zu Ende war, ging ich nach Hause und hatte sturmfrei, für satte drei Stunden. Erst ab 16 Uhr musste ich meiner Mutter und eine halbe Stunde später meinem Vater, Bericht erstatten, was ich mit meinem Nachmittag angestellt hatte. Hätte ich die Wahrheit gesagt, ich hätte wahrscheinlich sofort in ein Internat ziehen müssen – denn mit Hausaufgaben oder Vokabeln lernen, war es nicht weit her an diesen Nachmittagen.

Stattdessen verbrachte ich die Zeit damit, einen Soft-Tennisball immer wieder gegen den Backofen zu lupfen, von wo er in meine Richtung zurückprallte und per Volleyabnahme formvollendet in Richtung Terrassen-Tür vollendet wurde. Anschließend versuchte ich jede Jubel-Variante, die ich kannte oder von der ich mal geträumt hatte. Dabei konnte schon mal ein Nachmittag drauf gehen – was war dagegen schon die Versetzung in die sechste Klasse?

Eine Zeit lang spielte ich aber auch ein Spiel, dass den Backofen-Doppelpass klar in den Schatten stellte: Zettel-Europacup! Und das ging so: Auf fast gleich große Papierschnipsel, die aus der Innenseite meines Mathe-Heftes stammten, schrieb ich die Dauergäste des Europapokal der Landesmeister: Bayern München, ZSKA Sofia, Steaua Bukarest, FC Liverpool, Juventus Turin oder Real Madrid. Etwas aus der Reihe, aber trotzdem immer per theisischer Wild Card dabei: Alemannia Aachen! Was auf den Zetteln stand, entschied am Ende eben immer noch der Hausherr. Und der faltete sie akribisch und legte sie überaus sorgsam in die schönste Blumenvase des Hauses. Dazu kam eine weitere Zettel-Serie mit allen denkbaren Endergebnissen: 1:0, 3:0, 1:2, 4:0, 2:1 und so weiter. Natürlich waren mehr Heimsiege, als Auswärtssiege und nur ein einziges Unentschieden – ein 0:0 – mit von der Partie. Der Rest lag auf der Hand: In feierlichen Zeremonien wurde nun Runde für Runde gezogen und ausgespielt. Der Wohnzimmertisch war das Tableau und die Glücksfee war immer die Gleiche. Zwar hätte ich mir ab Klasse 6 gewünscht, dass Bettina Buhl aus meiner Klasse zu diesem Zweck einmal vorbei kommen wäre, da ich mich aber nicht traute sie zu fragen, machte ich es lieber weiter selbst. Das wiederum hatte den Vorteil, dass nicht nur der richtige Mann die Paarungen zog, sondern auch noch für die passenden Spielausgänge beziehungsweise die richtigen Ergebniszettel sorgte. Den mal ehrlich die Dürener UEFA war nicht an einem Finale Bukarest gegen Banik Ostrau interessiert – da hatte Real Madrid gegen Alemannia Aachen schon ein bisschen mehr Glamour und bei dieser Partie wurde nicht selten der höchste Ergebniszettel zu Alemannias Gunsten gezogen. Klar – ich erzählte am nächsten Tag in der Schule lieber nicht, dass Alemannia den Europapokal nun schon zum siebzehnten Mal verteidigt hatte, aber das war auch gar nicht nötig. Denn so lange ich das selber wusste, war ich ganz zufrieden damit.

In letzter Zeit muss ich öfters an diese Zettelwirtschaft denken. Denn als Ergebnisdienst taugte das alles damals nicht schlecht. Wenigstens wusste man, woran man war.

Später als der echte Fußball mich gefangen hatte – der, den man nicht mehr mal eben so am Wohnzimmertisch beeinflussen konnte. Nun waren es ganz andere Medien, denen ich ausgeliefert war, wenn es um Alemannia-Ergebnisse ging. Wer nicht weiß, wie entgeistert Frauen wirklich gucken können, sollte mal seiner erklären, dass er diesen Sonntagnachmittag absolut nichts unternehmen kann, weil von 14 Uhr bis 16 Uhr „Videotext-Gucken“ angesagt ist. Alemannia in, sagen wir: Karlsruhe auf dem Videotext ist ein echtes Erlebnis. Man starrt 90 Minuten auf sich so gut wie nicht verändernde Ergebnisse und zuckt immer dann zusammen, wenn ein Aktualisierungsgewitter über das schwarz-grüne Bild flimmert und rutscht auf den Knien vor den Bildschirm, wenn ein Tor vermeldet wird, das man nicht gesehen hat, aber sich bestens vorstellen kann. Ganz großes Kopfkino!

Im Moment wird das damalige Ergebnismassaker aber locker getoppt. Denn was soll man machen, um am Ball zu bleiben, wenn Viktoria Köln gegen den VfL Bochum II spielt? Oder Mönchengladbach gegen Kray? Mal ehrlich: Wer sich das im Viktoria-Köln- oder FC-Kray-Liveticker gibt, der knotet auch Arschhaare. Ich jedenfalls verbringe mittlerweile jeden verfluchten Sonntag damit, mit meinem Daumen einen Handy-Bildschirm nach unten zu ziehen und so zu sehen, ob irgendein Spieler aus Kray, Rödinghausen oder Bochum trifft – während des Familienausflugs, der Autofahrt oder kurz vor der ehelichen Pflicht. Totaler Ergebnis-Terror, den Du niemandem erklären kannst, der nicht auch tief in der Scheiße der Regionalliga watet.

Ein Glück, ist das jetzt vorbei. Denn auch im Niemandsland des Fußballs werden die letzten beiden Spieltage zeitgleich ausgetragen und das heißt: Robert Moonen sagt durch die Flüstertüte, wie es steht. Und dabei bin ich nicht alleine und verloren im digitalen Kray oder Köln. Und hey – wenn es schief geht, dann fahre ich nach Hause und hole mir den Europapokal. Da steht die Wild Card nämlich immer noch und vielleicht, wenn ich meine Frau frage, gibt sie die Glücksfee. Wer ist schon Bettina Buhl?

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