Do, 8. November 2018

Als der Kiosk schloss

Kolumne von Sascha Theisen

Ich kaufte meine Alemannia-Karten seinerzeit immer im Kiosk der Passage in der Nähe der Reistraße, in der wir damals in einer bemerkenswert trinkfesten WG vor uns hin mieteten. Der Inhaber war auch veritabler Alemanne und wir hielten nicht selten das ein oder andere kiebitzige Fachgespräch über das, was in diesem Jahr für uns und unseren Verein möglich wäre. Gerade erst hatten wir durch Henris Gewaltschuss Preußen Münster geschlagen, was ich ungefähr zwei Tage und zwei Nächte gefeiert hatte und nun galt es die Tickets für das Auswärtsspiel in Erkenschwick zu sichern und auch das letzte Heimspiel auf dem Tivoli gegen Wuppertal nicht aus den Augen zu verlieren. Ich hatte mir beide Karten also schon morgens früh gesichert, dabei ein weiteres Mal über die unfassbare Siegesserie Alemannias gefachsimpelt und den Aufstieg in die zweite Bundesliga einstimmig im zweistimmigen Expertenkreis zur beschlossenen Sache erklärt. Danach knüpfte ich die wertvollen Tickets an die WG-Pinnwand neben dem dort ebenfalls angepinnten Bild des jubelnden Mario Krohm und legte mich – nach alter und erprobter Studenten-Sitte – am helllichten Tag für zwei bis drei Stunden ins Bett. Die nächste Party kam ja bestimmt, vielleicht auch schon an diesem Abend.

Als ich aufwachte, setzte ich mich in die Küche, betrachtete die Tickets an der Pinwand voller Vorfreude und dachte darüber nach, ob ich meine letzten beiden Mark für den Kicker oder für ein Paket Nudeln und eine kleine Dose Tomatenmark ausgeben sollte. Ich entschied mich für den Kicker und begab mich also auf den Weg zum Kiosk, das zu meiner Überraschung allerdings geschlossen hatte. Also besorgte ich mir das Fachblatt woanders, setzt mich auf eine Bank in der Nähe des Luisenbrunnen und begann zu lesen.

Ich bin bis heute ganz gut daran, alles um mich herum auszublenden, wenn ich mich mit Fußball in welcher Form auch immer Form auseinandersetze. Deshalb fiel mir erst nach und nach auf, dass sich etwas verändert hatte. Es war seltsam ruhig und nur sehr vereinzelt standen Menschen zusammen, um sehr leise und konsterniert miteinander zu sprechen. Einige standen alleine mit Zeitungen in der Hand mitten auf dem Fußgängerweg und wischten sich Tränen aus den Augen. Selbst ich merkte nun: Irgendwas war passiert in dieser Stadt und es konnte nichts Gutes sein. Ich legte meine Zeitung weg und bekam stattdessen eine neue in die Hand gedrückt. Ein Bote drückte mir vier Seiten Sonderausgabe der Aachener Zeitung in die Hand und verteilte wortlos weiter.

Die Überschrift riss mir den Boden unter den Füßen weg, denn sie verkündete etwas Schreckliches, etwas Unerwartetes, etwas schmerzlich Unerträgliches: Der Trainer war gestorben. Seine Konterfei auf der Titelseite zeigte ihn leicht lächelnd und passte so gar nicht zu der schrecklichen Botschaft darunter.

Ich saß auf meiner Bank, auf der ich eigentlich nur den Kicker lesen wollte, für den ich auf mein Abendessen verzichtet hatte. Stattdessen weinte ich nun leise vor mich hin. Alles schien von einem Moment auf den anderen bedeutungslos – Erkenschwick, Wuppertal, einfach alles. Ich schaute rüber zum Kiosk, dessen Besitzer irgendwann im Verlauf der letzten beiden Stunden davon erfahren haben musste und wahrscheinlich auch deshalb seinen Laden dicht gemacht hatte.

Dieser schlimme Tag jährt sich im nächsten Jahr zum zwanzigsten Mal. Vorletzte Woche wäre der Trainer 70 geworden und ich hatte das gar nicht so sehr auf dem Schirm – einfach, weil ich nicht wusste, wann denn sein Geburtstag ist. „Unsere Beziehung“ war sehr einseitig gewesen. Er kannte mich nicht im eigentlichen Sinne, auch wenn ich bis heute noch glaube, dass er Mario Krohm ausschließlich nur wegen mir einwechselte. Zahlreiche virtuelle Glückwünsche auf den sozialen Netzwerken erinnerten mich dann aber doch an seinen Geburtstag und die Erinnerung an ihn überrannte mich gleich wieder. Daran, was er damals mit der Stadt gemacht hatte, indem er deren Mannschaft zu einem Aufstieg coachte, auf den so viele Tausende hin fieberten.

Gut ein halbes Jahr später zog ich weg aus der Reistraße, weg aus Aachen und auch die Partys wurden weniger. Den Kicker habe ich mittlerweile im Abo und was man aus Tomatenmark mit Nudeln machen kann, zeige ich heute meinen Jungs, wenn sie mal eine Minute ihrer digitalen Zeit für mich haben. An den Trainer denke ich aber ab und an immer wieder zurück. Die Sonderausgabe liegt immer gut sichtbar in meinem Keller, genau wie das gerahmte Bild der Aufstiegsmannschaft und das signierte Trikot von Mario.

Nachträglich, aber genauso herzlich: Happy Birthday, Trainer!



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