Do, 15. Oktober 2015

"Die perfekte Grätsche"

Die Kolumne von Sascha Theisen zum Spiel gegen Wegberg-Beeck

Wenn Du nur noch verlierst, ist es manchmal gut, sich auf die gute alte Floskel zu verlassen. Sätze wie „Flach spielen, hoch gewinnen!“ oder „Auch mal hinten rum spielen!“ verlieren bei Niederlagenserien gut und gerne an Trivialität. Stattdessen geben sie Halt in einem Milieu, das nur noch von Gegentoren, schlechten Tabellenplätzen und zerplatzten Aufstiegshoffnungen dominiert wird. In solchen vor Jauche triefenden Umfeldern ist es dann wenigstens ein bisschen gut, einen Satz zu hören wie „Einfach mal wieder auf die Grundtugenden besinnen!“. Oft gesagt, oft befolgt und überraschenderweise auch oft gewirkt. Und was wären die so oft besungenen Grundtugenden ohne die Grätsche? Die Mutter aller Grundtugenden! Die Mutter aller Schlachten! Die Mutter aller Floskeln!

Die perfekte Grätsche setzte ich vor Jahren, wenn nicht vor gar Jahrzehnten an, während einer Sportwoche im beschaulichen Bergstein, irgendwo im Niemandsland der tristen aber allzeit rauen Voreifel. Sie ist schon lange her, diese Grätsche. Aber sie ist präsent wie sie es immer war in all den Jahren, in denen ich es mittlerweile dran gegeben habe, selbst zu grätschen – ich, der ich einst voller Stolz die Brust raus schob, wenn sie mich in der Kabine im Mannschaftskreis leicht ehrfürchtig, leicht spöttisch „Die Grätsche“ nannten. „Die Grätsche“, die sich nicht zu schade war, jüngere Mitspieler beim „Fünf gegen Zwei“ zur Seite zu nehmen, um ihr die Vorzüge einer guten Grätsche einzuflüstern. Denn davon gab es viele. Eine Grätsche war kompromisslos, hart, auf Asche schonungslos gegen sich selbst und vor allem war sie die beste Ausrede für die Zeit nach dem Spiel, hinterließ sie doch eine Schlammspur vom Stutzen bis zum Trikot, die als laut artikulierter Beweis dafür diente, dass man auch an diesem verfluchten Sonntag – trotz allem – mal wieder alles gegeben hatte, was man hatte. Keine Frage: eine gute Grätsche war mehr als nur Teil des Spiels. Sie war Ästhetik, Verzweiflung, Schönheit.

Perfekt war sie wie gesagt nur ein Mal – einst in Bergstein. Längst weg war der Gegner, einen brandgefährlichen Konter einleitend. Alle beobachteten diese Aktion. Und niemand, absolut niemand rechnete damit, dass ausgerechnet ich nun nachsetzen würde, um das drohende Unheil zu verhindern. Warum auch? Schließlich tat ich das nie. In diesem einem Moment tat ich es aber doch – auch nach all den Jahren: keine Ahnung, warum. Aufgrund der Schnelligkeit, die mir nun schon seit Jahren fehlte, schien aber weder Gefahr für den davon eilenden Gegenspieler, noch für seinen Angriff zu bestehen – egal in welchem Tempo er ihn auch vorantreiben sollte. Also versuchte ich das, was unter den Premium-Grätschern von Bergstein bis Düren bis heute so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner ist, wenn es darum geht, halt einfach was zu machen, wenn eigentlich jeder weiß, dass nichts mehr geht: die Alibi-Grätsche. Ich schloss die Augen und ließ die Grätsche Besitz von mir ergreifen. Sie legte meinen Körper mit der linken Hälfte nach unten in den leicht angeschwitzten Rasen Bergsteins. Der Schwerpunkt auf dem linken Oberschenkel, an dem sich jeden rutschenden Zentimeter mehr die Fußballhose hoch rollte, während das rechte Bein, wie geparkt auf dem nach vorne rutschenden linken Bein, langsam zur Ausholbewegung ansetzte, um dann einem Katapult ähnlich unbarmherzig nach vorne zu schnellen. Eine stilistisch perfekte Grätsche, die allerdings – weil sie ja eine Alibi-Grätsche werden sollte – völlig überraschend für den ausführenden Grätscher genauso wie für die staunenden Beobachter dieses körperlichen Naturschauspiels alles andere als ins Leere führte. Es war als ob Beine aus einer anderen Welt in die meinen gefahren wären. Denn ohne, dass der vorher noch so schnell aussehende Gegenspieler auch nur gefällt wurde, was sonst bei treffenden Grätschen unwiderruflich der Fall gewesen war, stahl mein rechter Fuß nach der schwingenden Sensen-Bewegung des darüber liegenden Beines, den wahrscheinlich ebenfalls verdutzten Ball direkt vom Fuß meines Gegenspielers. Und immer noch wie von Geisterhand waren Balleroberung und Aufstehen in Richtung des anderen, des gegnerischen Tores eine fließende, eine perfekte Bewegung. Sogar ich selbst war völlig perplex, dass diese Grätsche in dieser unfassbaren Perfektion gelang. Eigentlich war sie physikalisch nicht möglich. Und trotzdem hob ich den Kopf und schaute mit einer fast schon arroganten Franz-Beckenbauer-Mimik, weitsichtig über das komplette Feld, als würde ich meine Optionen abstecken, um den nächsten Angriff einzuleiten. Ein perfekter Moment, einer für die Ewigkeit und vor allem einer, wie ich ihn nicht oft auf einem Fußballplatz erlebte. Zudem war er kurz, weil direkt auf ihn ein Fehlpass folgte – übrigens einer, der ebenfalls physikalisch unmöglich schien.

Aber das war egal! Denn in dieser Situation wusste ich, dass selbst dann noch etwas geht, wenn selbst Dein eigener Körper nicht mehr daran glaubt.

Wenn an diesem Freitag der FC Wegberg-Beeck an den Tivoli kommt, sollten sich Peter Hackenberg und seine Kollegen vielleicht daran erinnern, dass es die Floskeln sind, die helfen können – zum Beispiel: „Einfach mal auf die Grundtugenden besinnen!“. Ihr glaubt gar nicht, was dann alles möglich ist!

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